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Definition und Klassifikation der Lese-Rechtschreibstörung

Lese-Rechtschreibstörung, Legasthenie, Lese-Rechtschreibschwäche oder Kinder mit besonderen Schwierigkeiten im Erlernen des Lesens und Rechtschreibens – es gibt zahlreiche Bezeichnungen für dieses Phänomen. Die Vernetzung der Begrifflichkeiten ist schwer durchschaubar. Der kommende Beitrag umreißt den gegenwärtigen Stand und versucht, die Implikationen der Wortbedeutungen hervorzuheben.

Für Schwierigkeiten beim Erwerb der Schriftsprache diente lange Zeit der von Ranschburg (1916) gebrauchte Oberbegriff der Lese-Rechtschreib-schwäche. Scheerer-Neumann (2002) ist der Meinung, dass dieser eine eigenschaftsbezogene Nebenwirkung hat, gegenüber der ein wenig neutraleren Bezeichnung der Lese-Rechtschreibschwierigkeiten. Von diesem unklaren Ausdruck wird oft Gebrauch gemacht: L. hat eine Lese-Rechtschreib-schwäche. Unterdurchschnittliche Leistungen im Rechtschreiben, so Scheerer-Neumann (2002) weiter, bleiben von Schuljahr zu Schuljahr verhältnismäßig gleich. Im Vergleich zum Durchschnitt sind Schüler, welche zum Beispiel in der dritten Klasse schwach in der Rechtschreibung waren, auch noch die schwachen Rechtschreibschüler in der neunten Klasse. Aus diesem Grund sollte die Lese-Rechtschreibstörung stets nur mit dem aktuellen Leistungsstand zusammengebracht werden und keinesfalls als eine Eigenschaft des Kindes gedeutet werden (vgl. Scheerer-Neumann 2002: 9 f.).

 

Im November 1999 beschließt das bayerische Kultusministerium die Unterscheidung zwischen einer Lese-Rechtschreibschwäche (LRS) und einer Lese- und Rechtschreibstörung (Legasthenie). Laut diesem Beschluss wird die Lese-Rechtschreibstörung definiert als:

 

„eine Störung des Lesens und Rechtschreibens, die entwicklungsbiologisch und zentralnervös begründet ist. Die Lernstörung besteht trotz normaler oder auch überdurchschnittlicher Intelligenz und trotz normaler familiärer und schulischer Lernanregungen. Die Beeinträchtigung oder Verzögerung beim Erlernen grundlegender Funktionen, die mit der Reifung des zentralen Nervensystems verbunden ist, hat demnach biologische Ursachen, deren Entwicklung lange vor der Geburt des Kindes angelegt oder durch eine Schädigung im zeitlichen Umkreis der Geburt bedingt ist.


Legasthenie ist eine nur schwer therapierbare Krankheit, die zu teilweise erheblichen Störungen bei der zentralen Aufnahme, Verarbeitung und Wiedergabe von Sprache und Schriftsprache führt. Individuelle Ausprägungen und Schweregrade dieser Lernschwierigkeit ergeben sich durch unterschiedliche Kombinationen von Teilleistungsschwächen der Wahrnehmung, der Motorik und der sensorischen Integration. Von Legasthenie sind rund 4 % aller Menschen betroffen.“[1]

 

In Abgrenzung zur Lese-Rechtschreibstörung wird die Lese-Rechtschreib-schwäche (LRS) folgendermaßen beschrieben:

 

„Im Gegensatz zur anhaltenden Lese- und Rechtschreibstörung können Schüler ein vorübergehendes legasthenes Erscheinungsbild aufweisen, das auf unterschiedliche Ursachen zurückzuführen ist. Ursache dafür kann z.B. eine Erkrankung, eine besondere seelische Belastung oder ein Schulwechsel sein. Rund 7% bis 10% aller Schüler im Einschulungsalter haben Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens.“ (ebd.).

 

Eine weitere Gruppe bilden Kinder, die als generell minderbegabt gelten und für die ein sonderpädagogischer Förderbedarf notwendig erscheint. Diese Schüler weisen zum Teil erhebliche Schwierigkeiten im schulischen Arbeiten und Lernen auf, welche die gesamte Schulzeit fortbestehen (vgl. ebd.).

Laut Scheerer-Neumann (2002), ist für lese-rechtschreibschwache Kinder bedeutend, ob diese in die Kategorie Lese-Rechtschreibstörung oder Lese-Rechtschreibschwäche eingeteilt werden. Sowohl bei Feststellung der Leistung und Bewertung als auch bei Fördermaßnahmen müssen nämlich Schüler mit einer fortdauernder Legasthenie beziehungsweise temporären Lese-Rechtschreibschwierigkeiten unterschieden werden. Eine Ungleichheit im Umgang mit diesen Gruppen zeigt sich darin, dass Bestimmungen zum Nachteilsausgleich, wie zum Beispiel die Benotung, bei lese-rechtschreib-schwachen Schülern nur als eine Richtlinie, dagegen bei Legasthenikern als zwingend notwendig einzuhalten gilt (vgl. Scheerer-Neumann 2002: 15).

 

Die Weltgesundheitsorganisation zählt die Lese-Rechtschreibstörung zu den „Entwicklungsstörungen“ (F8) (Dilling et al. 2010: 285; Herv. d. d. Verf.). Charakteristisch für diese Störungen ist ein Beginn im Vorschulalter beziehungsweise in der Kindheit, eine verzögerte oder eingeschränkte Funktionsentwicklung, eng verknüpft mit der naturbedingten Reifung des Zentralnervensystems sowie einer kontinuierlichen Entwicklung (vgl. ebd.). Nach dem ICD-10 ist die Lese-Rechtschreibstörung (F81.0) den „umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ (a.a.O.: 294) zugehörig mit nachstehender gegenwärtiger Begriffsbestimmung:

 

„Das Hauptmerkmal dieser Störung ist eine umschriebene und eindeutige Beeinträchtigung in der Entwicklung der Lesefertigkeiten, die nicht allein durch das Entwicklungsalter, durch Visus-Probleme oder unangemessene Beschulung erklärbar ist. Das Leseverständnis, die Fähigkeit, gelesene Worte wiederzuerkennen, vorzulesen und die Leistungen bei Aufgaben, für welche Lesefähigkeit benötigt wird, können sämtlich betroffen sein. Mit Lesestörungen gehen häufig Rechtschreibstörungen einher. Diese persistieren oft bis in die Adoleszenz, auch wenn im Lesen einige Fortschritte gemacht wurden. […] Die Leseleistungen des Kindes müssen unter dem Niveau liegen, das aufgrund des Alters, der allgemeinen Intelligenz und der Beschulung zu erwarten ist. […] In der späteren Kindheit und im Erwachsenenalter sind die Rechtschreibprobleme meist größer als Defizite in der Lesefähigkeit“ (a.a.O.: 298 f.).

 

Die von der Lese-Rechtschreibstörung abgegrenzte isolierte Rechtschreibstörung (F81.1) wird als eine „umschriebene und eindeutige Beeinträchtigung in der Entwicklung von Rechtschreibfertigkeiten ohne Vorgeschichte einer umschriebenen Lesestörung“ (a.a.O.: 300) beschrieben. Diese Störung kommt seltener vor. Es ist jedoch nicht bekannt, wie häufig sie auftritt (vgl. Warnke & Roth 2000: 457).

In dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störungen (DSM-IV) der Amerikanischen Psychiatrischen Vereinigung, wird die Lese-Rechtschreibstörung als eine Lernstörung charakterisiert und den klinischen Störungen beigeordnet. Laut Warnke et al. (2004), ersetzt beziehungsweise ergänzt das DSM-IV einige Passagen im ICD-10 und beinhaltet dadurch genauere und speziellere diagnostische Eigenschaften. Es muss viele Zusätze der ICD-10 nicht einbeziehen und berücksichtigt geschlechtsspezifische Unterschiede. Hingegen ist für die ICD-10 der interkulturelle Aspekt von großer Bedeutung (vgl. Warnke et al. 2004: 2; Herv. d. d. Verf.). Lediglich im DSM-IV wird die Störung des schriftlichen Ausdrucks erläutert. Diese ist mit „sonstigen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten“ (Dilling et al. 2010: 303, F81.8; Herv. d. d. Verf.) vergleichbar. Symptomatisch für diese Störung sind zahlreiche Rechtschreibfehler beim Verfassen schriftlicher Texte, eine mangelnde Textstruktur, ein dysgrammatischer Satzbau oder eine undeutliche Schrift. Schriftsprachlich vermag das Kind nicht sich begabungs- und altersadäquat auszudrücken (vgl. Warnke et al. 2004: 2).

 

Die Lese-Rechtschreibstörung ist klassifikatorisch abzugrenzen gegenüber folgenden Ausschlusskriterien:

 

1.    den erworbenen Störungen des Lesens und Rechtschreibens aufgrund einer Schädigung des Gehirns (Alexie, Dyslexie),

2.    der aus verschiedenen psychiatrischen Leiden oder emotionalen Störungen (F93) entstandenen Störung des Lesens (vgl. Dilling et al. 2010: 300) sowie

3.    Lese- und Rechtschreibschwierigkeiten, welche durch unangemessenen oder fehlenden Unterricht begründet sind (vgl. Warnke & Roth 2000: 457).

 

Klasen (1999) nimmt folglich an, dass die Lese-Rechtschreibstörung eine entwicklungsbedingte Teilleistungsstörung in verschiedenen, für das Erlernen des Lesens und Schreibens bedeutsamen, neuropsychologischen Funktionen des Gehirns ist (vgl. Klasen 1999: 14). Graichen (1979) definiert Teilleistungsstörungen „als Leistungsminderungen einzelner Faktoren oder Glieder innerhalb eines größeren funktionellen Systems, das zur Bewältigung einer bestimmten komplexen Anpassungsaufgabe erforderlich ist“ (Graichen 1979: 49). Gemäß Klasen (1999), ist hier die Wahrnehmungsverarbeitung erwähnenswert, welche für das Schreiben und Lesen von großer Bedeutung ist. Dieses Umwandeln der Buchstaben in Sprachlaute und umgekehrt klappt nämlich bei legasthenen Schulkindern am wenigsten (vgl. Klasen 1999: 14). Die verschiedenen Teilleistungsstörungen werden, nach Daumenlang und Döllinger (2002), in vier Kategorien eingeteilt: in Bereiche der Fein- und Grobmotorik, der Körper-Raum-Zeit-Orientierung sowie in Wahrnehmungsbereiche. Diese Gebiete können nicht eindeutig voneinander getrennt werden (vgl. Daumenlang & Döllinger 2002: 9). Das ICD-10 fasst Teilleistungsstörungen unter den umschriebenen Entwicklungsstörungen zusammen (vgl. Dilling et al. 2010: 283 f.). Als Hauptursache für diese Teilleistungsstörungen wird, nach Beckenbach (2000), eine frühkindliche Hirnschädigung oder eine erbliche Störung angenommen (vgl. Beckenbach 2000: 123). Wichtig erscheint, so Klasen (1999), dass die Legasthenie als eine Störung und nicht als eine Schwäche bezeichnet wird, da sie nicht aufgrund eines Intelligenzmangels, fehlender sozialer Unterstützung oder ungenügendem Unterricht entsteht. Kinder mit einer Lese-Rechtschreibstörung sind demzufolge durchschnittlich- bis hochintelligent (vgl. Klasen 1999: 14 ff.). Schwark und Laue (2001) sind darüber hinaus der Auffassung, dass jedes Kind seine persönliche Legasthenie besitzt, etwa wie jedermann auch seine individuelle Handschrift verfügt. Die Merkmale ähneln sich, dabei ist die Ausprägung bei allen Personen unterschiedlich. Beim Umsetzen von Laut- in Schriftsprache sind legasthene Kinder deswegen ungleich beeinträchtigt. Da sie die Umsetzung lediglich teilweise bis gar nicht automatisieren können, sind sie aus diesem Grund verpflichtet ihre Lernschwierigkeiten durch individuelle Lernstrategien auszugleichen. Lese-Rechtschreib-Störung, Lese-Rechtschreib-Schwäche oder Lese-Rechtschreib-Schwierigkeiten beginnen jeweils mit den Anfangsbuchstaben LRS. Schwark und Laue (2001) nehmen deshalb an, dass dies oft dazu verführt prinzipiell die Abkürzung LRS zu benutzen (vgl. Schwark & Laue 2001: 21 ff.). Um betroffenen Schülern gezielt helfen zu können, mutmaßt Suchodoletz (2007), sollte aus diesem Grund von einer LRS lediglich bei Kindern gesprochen werden, bei welchen die Störung erwartungswidrig erscheint. Ferner darf die Störung nicht durch handfeste Auslösefaktoren, wie zum Beispiel eine generelle Lernschwäche oder eine ungenügende Beschulung, bedingt sein (vgl. Suchodoletz 2007: 18).


 

[1] Vgl. http://www.schulberatung.bayern.de/schulberatung/index_05164.asp [27.10.2010].