Charakteristik der Lese-Rechtschreibstörung
Schriftsprache ist eine Fähigkeit, welche nur von Menschen beherrscht wird. Hierbei wird Visuelles mit Sprachlichem verknüpft und visuomotorisch dargestellt (Rechtschreiben) beziehungsweise entschlüsselt (Lesen). Beim Lesen werden graphische und bildhafte Zeichenfolgen oder Zeichen in akustisch-sprachliche Botschaften übersetzt. Dagegen wird beim Rechtschreiben die klanglich wahrgenommene Sprache, etwa bei einem Diktat, sowie die das Gedächtnis erreichbare Spontansprache, beispielsweise beim Schreiben eines Aufsatzes, in Visuell-Graphisches umgeformt. Mit Mitteln, die visuell räumlich geordnet sind, wird das akustisch-zeitlich Geordnete kodiert. Durch das Vorlesen wird Erkennbares hörbar und durch das Rechtschreiben wird Gehörtes sichtbar gemacht. Das Sehen mit den Augen, das Hören mit den Ohren sowie die Graphomotorik der Hände sind funktionell verknüpft. Daneben müssen Lese- und Rechtschreibregeln und somit der Sinn von Wort und Satz erlernt werden (vgl. Warnke & Roth 2000: 454).
Dieser Teilabschnitt beschreibt das beeinträchtigte Erlernen der Schriftsprache. Angenommen werden eine Entwicklungs- und eine Teilleistungsstörung, demzufolge eine diagnostisch isolierbare Beeinträchtigung im Aneignen von Lesen und Rechtschreiben.
2.4.1 Störungsbild des Lesens
In den frühen Phasen des Leselernprozesses haben legasthene Kinder unter anderem Schwierigkeiten beim Aufsagen des Alphabets, bei der Unterscheidung der Laute sowie der Zuordnung dieser Laute den entsprechenden graphischen Buchstabenzeichen und bei der Bildung von einfachen Wortreimen. Dies erklärt Warnke (1996) dadurch, dass bei den Betroffenen die Phonem-Graphem-Zuordnung beeinträchtigt ist (vgl. Warnke 1996: 23 f.; vgl. Warnke & Roth 2000: 454).[1]
Entsprechend dem ICD-10 können beim lauten Vorlesen folgende Fehler auftreten:
- Verdrehen, Hinzufügen, Auslassen oder Ersetzen von Wortteilen oder Worten,
- mäßige Lesegeschwindigkeit,
- Startschwierigkeiten oder langes Zögern beim Vorlesen, Verlieren der Textzeile, ungenaues Phrasieren und
- Vertauschen von Wörtern oder Buchstaben (vgl. Dilling et al. 2010: 299).
Defizite im Leseverständnis präsentieren sich beispielsweise in:
- einer Unfähigkeit, das Gelesene wiederzugeben,
- einem Unvermögen, aus dem Gelesenen Schlüsse zu ziehen und Zusammenhänge wahrzunehmen sowie
- der Anwendung des Allgemeinwissens als Hintergrundinformation anstatt von Hinweisen aus einer Geschichte bei der Fragenbeantwortung über die gelesene Geschichte (vgl. ebd.).
Bei schwerwiegenden Lesestörungen erkennen legasthene Kinder, trotz Hinweisen, ihre Lesefehler nicht. Symptomatisch ist die Beständigkeit, dass ein zuvor fehlerfrei gelesenes Wort später wieder falsch gelesen werden kann. Die Lesestörungen sind oft mit Rechtschreibstörungen verknüpft (vgl. Warnke 1996: 24; vgl. Warnke & Roth 2000: 454).
2.4.2 Störungsbild des Rechtschreibens
In Deutschland, erwähnt Warnke (1996), sind die Rechtschreibschwierigkeiten längerfristig profilierter als die Leseschwierigkeiten. Da die Rechtschreibfehler bei jedem Kind sehr variabel sind, gibt es auch keine Fehlertypologie, nach der eine Diagnose möglich wäre. Nach Warnke (1996) oder Warnke und Roth (2000), lassen sich folgende Symptome der Rechtschreibstörung finden:
- Buchstabenverdrehen im Wort, zum Beispiel u-n, p-q, d-b,
- Buchstabenumstellungen im Wort, zum Beispiel die-dei,
- Worte, Buchstabenfolgen, Buchstaben werden ausgelassen, zum Beispiel auch-ach,
- Einfügen falscher Buchstaben, zum Beispiel Arzt-Artzt,
- Regelfehler (Groß- und Kleinschreibung, Dehnung regelwidrig),
- Wahrnehmungsfehler: Verwechseln von zum Beispiel g-k und d-t,
- Fehlerinkonstanz: gleiches Wort wird wiederkehrend unterschiedlich fehlerhaft geschrieben (vgl. Warnke 1996: 24; vgl. Warnke & Roth 2000: 454).
Warnke und Roth (2000) beobachten, dass legasthene Schulkinder, die auf ihre Rechtschreibfehler hingewiesen werden, diese Fehler oft nicht erkennen (vgl. Warnke & Roth 2000: 454 f.). Jüngere Schüler, so Warnke (1996), lassen mehrfach entweder Buchstaben aus oder ersetzen diese durch andere Buchstaben und schreiben Mitlaute häufiger falsch als Selbstlaute. Vergleichsweise haben ältere Schüler mehr Probleme mit der Groß- und Kleinschreibung von Wörtern (vgl. Warnke 1996: 25). Warnke und Roth (2000) sind der Ansicht, dass die Lesefortschritte in vielen Fällen offensichtlicher sind, während die Rechtschreibstörungen meist bis in das Erwachsenenalter hinein fortbestehen. Kinder, die Inhalte schnell im Gedächtnis behalten können, kompensieren zunächst die Lese-Rechtschreibstörung gut. Aber ab dem dritten Schuljahr, wenn spontane Aufsätze oder ungeübte Diktate verlangt werden, repräsentiert sich dann die Legasthenie erstmalig als eine Störung (vgl. Warnke 1996: 25; vgl. Warnke & Roth 2000: 454 f.).
Die dargestellte Lese- und Rechtschreibentwicklung bei Schulkindern mit einem gestörten Schriftspracherwerb verdeutlicht, dass die Betroffenen bei der Aneignung des Lesens und Rechtschreibens von Anbeginn zurückbleiben. Zu Beginn weisen diese Schüler große Schwierigkeiten bei dem phonologischen Rekodieren einer visuell vorgegebenen Buchstabenfolge auf.[2] Nämlich besonders dann, wenn sie die schon erlernten Graphem-Phonem-Zuordnungen auf die noch unbekannten Wörter oder Pseudowörter übertragen sollen. Mit Pseudowörtern bezeichnen Klicpera et al. (2007) aussprechbare Buchstabenfolgen, welche keine richtigen Wörter darstellen. Entsprechendes gilt auch beim Aufschreiben von angesagten Phonemfolgen, unbekannten Wörtern oder Pseudowörtern. Beim Schreiben und Lesen von fremden Wörtern sowie Pseudowörtern besteht bei diesen Kindern, gemäß Klicpera et al. (2007), über einen längeren Entwicklungszeitraum eine größere Unsicherheit. Diese Unsicherheit offenbart sich in einem fehleranfälligen Lesen oder der Lesegeschwindigkeit. Ein verlangsamtes Worterkennen ist typisch für die weitere Leseentwicklung. Trotz Übung, gelingt es den Betroffenen kaum, die Verzögerung in der Worterkennungsgeschwindigkeit auszugleichen. Des Weiteren haben sie auch Defizite im Leseverständnis (vgl. Klicpera et al. 2007: 144 f.). Abgesehen vom Lesen ist auch die Rechtschreibung beeinträchtigt. Klicpera et al. (2007) nehmen an, dass die Defizite beim Aneignen des orthographisch fehlerfreien Schreibens bei legasthenen Schulkindern recht lange andauern. Hierfür ist ein fehlendes Durchhaltevermögen beim Schreiben mitverantwortlich. Formulieren und Gestalten eines zusammenhängenden Textes macht mehr Schwierigkeiten, als das verbale Texterstellen (vgl. a.a.O.: 145 f.).
2.4.3 Vorschulische und primäre Begleitstörungen
Im Vorschulalter können bei legasthenen Schulkindern zusätzlich andere umschriebene Entwicklungsstörungen diagnostiziert werden. Nach Warnke und Roth (2000), zeigen sich wiederholt Entwicklungsstörungen der Sprache oder des Sprechens bei ungefähr 60 bis 80 Prozent der Kinder. Bei eventuell fünf bis zehn Prozent der Betroffenen finden sich Koordinationsstörungen von visueller Wahrnehmung und des Bewegungsapparates (Visuomotorik). Des Weiteren werden visuelle Anzeichen, wie zum Beispiel Schwierigkeiten bei der differenzierten rhythmischen Schreibbewegung (Graphomotorik) oder der gestörten Figurwahrnehmung vorgefunden. Kennzeichnend ist aber auch eine begleitende Verbindung mit der Überaktivität, den Aufmerksamkeitsschwierigkeiten oder der Impulsivität (vgl. Warnke & Roth 2000: 455).
2.4.4 Sekundäre Begleitstörungen
Warnke und Roth (2000) sind der Ansicht, dass Schüler mit einer Lese-Rechtschreibstörung gegenüber den anderen Mitschülern erheblich benachteiligt sind. Bei ihnen besteht die Gefahr einer anhaltenden Überforderung sowie einer fälschlichen Beurteilung als minderbegabt. Darüber hinaus ist ihnen eine Fehlererkennung, trotz gezielter Berichtigung, nicht möglich. Aus diesem Grund fühlen sich die Betroffenen für ihre Leistungen bestraft, können jedoch die Fehlerhaftigkeit nicht wahrnehmen. Es entsteht ein Leidensdruck, wobei die ersten psychischen Zeichen der Überforderung schon nach einigen Schulwochen auftreten können (vgl. ebd.).
Psychische Begleitstörungen bei Schulkindern mit einer Lese-Rechtschreib-störung können, nach Warnke und Roth (2000), sein:
- hyperkinetische Merkmale, Störungen im Sozialverhalten,
- Konzentrations-, Disziplinschwierigkeiten,
- generelle Lernleistungsstörungen, beispielsweise Motivationsverlust, generalisiertes Leistungsversagen, seltener: Überehrgeiz,
- emotionale Anhaltspunkte, zum Beispiel Versagens-, Schulangst, depressive Verstimmungen, suizidale Äußerungen,
- psychosomatische Kennzeichen, beispielsweise Bauchschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen als Hinweise auf Schulangst,
- Hausaufgabenkonflikte (vgl. Warnke & Roth 2000: 455 f.).
Warnke und Roth (2000) führen in diesem Zusammenhang die epidemiologische Mannheimer Längsschnittstudie an, welche für die deutschsprachigen Gebiete außerordentlich aufschlussreich ist. Zitiert nach Warnke und Roth (2000), wiesen demnach vier Fünftel der achtjährigen legasthenen Schüler ungenügende Leistungen in einem Hauptfach auf. Die Hälfte dieser durchschnittlich intelligenten Kinder wiederholte bereits ein Schuljahr. Gegenüber Kindern, welche andere umschriebene Entwicklungsstörungen aufwiesen, hatten die dreizehnjährigen legasthenen Kinder den hinderlichsten schulischen Entwicklungsstand. Lediglich 27 Prozent dieser Schüler besuchte ein Gymnasium. Gleichaltrige Mitschüler, mit zum Beispiel einer motorischen Entwicklungsstörung oder einer Sprachentwicklungsstörung, waren im Vergleich dazu bis zu 58 Prozent Schüler eines Gymnasiums. Lediglich 12 Prozent der achtzehnjährigen legasthenen Schulkinder erreichten das Gymnasial- oder Realschulniveau. Bei dem übrig bleibenden Teil der Schüler mit einer umschriebenen Entwicklungsstörung, waren es hingegen 59 Prozent. Die Gruppen mit Entwicklungsstörungen der Motorik und Sprache sowie des Rechtschreibens und Lesens zeigten annäherungsweise gleichartige Häufigkeiten psychiatrischer Krankheitszeichen auf. 61 Prozent der psychisch auffallenden acht- und dreizehnjährigen Schüler mit Störungen in der Entwicklung und 41 Prozent der Achtzehnjährigen stellten allerdings im Vergleich zur Normalpopulation signifikant erhöhte Prozentwerte dar. Bei den acht-, dreizehn- sowie achtzehnjährigen Schulkindern war die durchschnittliche Zahl dissozialer Erscheinungen geringstenfalls dreimal höher als bei den Normalbegabten ohne eine umschriebene Entwicklungsstörung. Erwähnenswert ist allerdings, dass die legasthenen Kinder charakteristisch zahlreicher von umweltbedingten Belastungen gefährdet waren, als die übrigen Schüler mit umschriebenen Entwicklungsstörungen (vgl. a.a.O.: 456).
Familiäre Erziehungsschwierigkeiten verschärfen sich bei legasthenen Kindern vielfach in der Hausaufgabensituation. Legasthene Schüler benötigen durchschnittlich wesentlich mehr Zeit für die Hausaufgaben als ihre Mitschüler. Die Betroffenen sind überfordert, unkonzentriert, werden ärgerlich und missmutig und wenden sich schließlich hilfesuchend an ihre Eltern. Die Eltern sind auf diese Weise beizeiten in die Hausaufgabensituation ihrer Kinder einbezogen, dabei bleiben ihre intensiven Bemühungen verhältnismäßig erfolglos. Dieses erhöhte und trotzdem ergebnislose Bemühen der Eltern einerseits und die beträchtliche Fehlerquote der Kinder andererseits tragen beachtlich zu einer Zuspitzung von Hausaufgabenkonflikten bei (vgl. ebd.).
[1] Graphem: „die Klasse aller in einem Schriftsystem möglichen Wiedergaben eines Phonems, zum Beispiel wird das Graphem für das Phonem [i:] in den Schreibungen i (dir), ie (die), ih (ihr) und ieh (Vieh) realisiert“ (Bertelsmann Lexikothek 1994 K: 102).
[2] Auf das phonologische Rekodieren wird im Verlauf der Arbeit noch genauer eingegangen